Interview

„Wir brauchen ein besseres Verständnis für sexualisierte Gewalt“

Karin Heisecke, Christina Heinen

Medienradar und mediendiskurs.online, 08/2024

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist sehr weit verbreitet und doch ein Tabuthema. Woher kommt das, wozu dient das Schweigen, und wie lässt es sich brechen? Karin Heisecke ist Expertin für Geschlechterfragen und internationale Politik. Für den Europarat verfasste sie die Handreichung Raising awareness of violence against women und berät Regierungen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention. Mediendiskurs sprach mit ihr über die Rolle der Medien, die Dynamik geschlechtsspezifischer Gewalt und über Wege, sie zu beenden.

Was verstehen Sie unter geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt?

Geschlechtsspezifische Gewalt ist Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung richtet. Sie umfasst alle Formen von Gewalt, also körperliche, sexualisierte, psychische und wirtschaftliche Gewalt. Insbesondere Frauen sind von geschlechtsspezifischer Gewalt, zum Beispiel sexualisierter und häuslicher Gewalt, betroffen. Dies ist im „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, kurz: Istanbul-Konvention, anerkannt. Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarates, der seit Februar 2018 auch in Deutschland geltendes Recht ist. Das bedeutet, dass die Vorgaben der Konvention zu Prävention, Schutz und Unterstützung der Betroffenen und zur Strafverfolgung der Täter*innen in Deutschland umgesetzt werden müssen. Die Istanbul-Konvention versteht Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Menschenrechtsverletzung und als Haupthindernis für Gleichstellung.

Zielscheibe geschlechtsspezifischer Gewalt werden auch oft queere Menschen. Die bestehende Geschlechterordnung – auch im Hinblick auf Heterosexualität und binäre Geschlechtsidentitäten als Norm – wird durch geschlechtsspezifische Gewalt stabilisiert.

Für den Begriff „sexualisierte Gewalt“ gibt es verschiedene Definitionen. In den Sozialwissenschaften oder in der Arbeit von und mit Betroffenen umfasst der Begriff sexualisierte Gewalt in der Regel ein breiteres Spektrum mit allen Formen von physischen und psychischen sexuellen Übergriffen, wobei der Fokus darauf liegt, dass Sexualität zum Zwecke der Ausübung von Gewalt funktionalisiert wird. Dazu zählen Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch von Kindern. Sexueller Kindesmissbrauch als eine Form sexualisierter Gewalt betrifft auch viele Jungen. Aufgrund von Geschlechterrollenstereotypen ist es für Jungen und Männer noch schwieriger sich Hilfe zu suchen, wenn sie sexualisierte Gewalt erfahren, als für Mädchen und Frauen.

Die juristischen Definitionen von Vergewaltigung, sexuellem Kindesmissbrauch, sexueller Belästigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt sind enger gefasst. Das Sexualstrafrecht hinkt gewissermaßen dem Stand der Forschung und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland hinterher. Bis 1997 war zum Beispiel Vergewaltigung in der Ehe noch gar nicht als Straftat anerkannt, ebenso konnten bis dahin Männer nach dem strafrechtlichen Verständnis nicht Opfer von Vergewaltigung werden. Sexuelle Belästigung, „Grapschen“ im öffentlichen Raum, ist ebenfalls erst seit 2016 als Straftat anerkannt.

Häusliche Gewalt ist in der Istanbul-Konvention definiert als „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte.“ Bei häuslicher Gewalt gehen der körperlichen und sexualisierten Gewalt oft psychische und wirtschaftliche Gewalt voraus: Das Handy der Partnerin wird kontrolliert, ihr der Zugriff auf gemeinsames oder eigenes Geld verweigert, sie wird von Freund*innen und Familienangehörigen isoliert, gedemütigt und gezielt in ihrem Selbstwertgefühl beschädigt. Im Englischen nennt man das coercive control (erzwungene Kontrolle/Zwangskontrolle). In Großbritannien ist coercive control als Form von häuslicher Gewalt und Gewalt in Partnerschaften anerkannt und strafbar. Diese Form von Gewalt, die viele Frauen betrifft, ist in Deutschland rechtlich noch nicht als Gewalt anerkannt [1].

Warum wird sexualisierte Gewalt nur so selten bestraft?

Wir brauchen gesamtgesellschaftlich ein besseres Verständnis für sexualisierte Gewalt und für die Dynamiken geschlechtsspezifischer Gewalt. Bis 2016 war für die Erfüllung des Tatbestands der Vergewaltigung erforderlich, dass das Opfer sich körperlich dagegen gewehrt hat und das auch nachweisen konnte. Ein „Nein“ hat nicht ausgereicht. Das wurde geändert, entscheidend ist jetzt, dass die sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen einer Person ausgeführt wurde. „Nein heißt Nein“, mit diesem Slogan ist die Frauenbewegung schon in den 1970er Jahren auf die Straße gegangen. Seit 8 Jahren ist das endlich auch im deutschen Strafrecht angekommen. Allerdings ist die Beweisführung meist schwierig, deshalb kommt es selten zu Verurteilungen. Sexualisierte Gewalt ist in vielen Fällen schwer nachweisbar, zumindest, wenn nur zwei Personen anwesend waren. Dann steht Aussage gegen Aussage und es gilt: „Im Zweifel für den Angeklagten“. Dazu kommt, dass in den Köpfen der Richter*innen – und derweil auch bei den Anwält*innen der Betroffenen – häufig noch viele Stereotype vorherrschen. Das kann dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen hinterfragt oder ihnen eine Mitschuld unterstellt wird. Deshalb zeigen viele Frauen eine Vergewaltigung gar nicht erst an, um es sich zu ersparen, das Trauma vor Gericht noch einmal durchleben zu müssen, ohne dass eine realistische Chance für eine Verurteilung besteht. Umso wichtiger ist, dass Menschen im Aufwachsen möglichst früh lernen, Grenzen bei anderen zu respektieren, darauf zu achten, wie wir miteinander umgehen und kommunizieren, gerade auch, wenn es um Sexualität geht. Pornografie ist allgegenwärtig und vermittelt oft ein verzerrtes Bild von sexuellen Handlungen. Über Sexualität in der Realität zu sprechen, fällt uns meist noch schwer.

Ein Verständnis von Sexualität, dem Gewalt gegen Frauen mehr oder weniger explizit eingeschrieben ist, prägt unsere Kultur. In einem HipHop Song, den ich heute Morgen gehört habe, singt eine Frau: „Bei dir mein ich Ja wenn ich Nein sage“. Daran lässt sich die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt ablesen – die Geläufigkeit dieser Gewaltbilder lässt uns Gewalt gegen Frauen oft gar nicht angemessen als solche begreifen – sogar Betroffene nehmen Gewalt mitunter nicht bewusst als solche wahr.

Wir sind alle im Patriarchat sozialisiert und haben solche Muster verinnerlicht. Auch in alten – und teils auch neueren – Filmen sind Muster von geschlechtsspezifischer Gewalt gang und gäbe und werden oft positiv dargestellt. Denken Sie an James Bond, der hat seine Partnerinnen erst gegen die Wand gedrückt und gegen ihren Willen geküsst, bevor sie dann doch in seinen Armen dahingeschmolzen sind.

Wenn man über Gewalt sprechen will, muss man darüber reden, dass das Problem darin besteht, dass Männer Gewalt ausüben. Die meisten Opfer von Gewalt sind Männer – Männer erleben im öffentlichen Raum Gewalt durch andere Männer. Nur bei geschlechtsspezifischer, insbesondere sexualisierter Gewalt sind die Opfer meistens Frauen. Aber wie bei allen Gewaltformen sind auch hier die Täter überwiegend Männer.

Woher kommt das, dass Männer so viel mehr Gewalt ausüben als Frauen?

Auch hier spielt die patriarchale Sozialisation eine Rolle. Aus der Forschung zu häuslicher Gewalt weiß man, dass Täter gewalttätiges Verhalten ablegen und gute Chancen haben, nicht noch einmal zum Täter zu werden, wenn sie sich kritisch mit ihrem eigenen Verständnis von Männlichkeit und ihrer Rolle als Mann auseinandersetzen. Anti-Aggressionstraining und all die anderen Ansätze bringen nicht viel, wenn nicht auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis als Mann stattfindet. Geschlechtsspezifische Gewalt ist sehr eng mit unseren Vorstellungen von Geschlechterrollen verbunden. Ideen von Männlichkeit basieren auch heute noch darauf, Stärke zu zeigen, Macht auszuüben, und mit der Ausübung von Macht geht oft Gewalt einher.

Können Männer schlechter mit der Angst vor dem Verlust der Partnerin, oder der Kränkung, verlassen worden zu sein, umgehen als Frauen?

Dass Jungen viel mehr als Mädchen dazu angehalten werden, ihre Emotionen zu unterdrücken und insbesondere seelischen Schmerz nicht nach außen zu kommunizieren, erschwert es sicherlich, einen guten Umgang damit zu lernen. Vor allem aber betrachten in Partnerschaften gewalttätige Männer die Frau als ihren Besitz. Sie gestehen ihr gar nicht erst das Recht zu, sich von ihnen abzuwenden. Dies zeigt sich sogar in der Rechtsprechung bei Femiziden (die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts). So hat der Bundesgerichtshof 2008 grundlegend entschieden, dass es sich um Totschlag und nicht um Mord handelt, insofern als keine „niedrigen Beweggründe“ vorliegen, wenn ein Mann seine Partnerin tötet, weil sie ihn verlassen will, wortwörtlich wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“ [2].

Dass bereits in Kitas und Schulen auf Ungleichwertigkeit basierende Geschlechterrollen hinterfragt werden, ist ganz entscheidend, denn diese Geschlechterrollen begünstigen geschlechtsspezifische Gewalt. Gewalt gegen Frauen und Mädchen geschieht vor allem im sozialen Nahbereich, in Partnerschaften und Familien, aber sie ist kein individuelles oder privates Problem, sondern wird begünstigt durch Rollenbilder, die tief in unserer Kultur verwurzelt sind. Wenn wir etwas daran ändern wollen, müssen wir Gewalt gegen Frauen und Mädchen als gesamtgesellschaftliches Problem begreifen und angehen.

Inwiefern ist sexualisierte Gewalt ein Hemmnis für Gleichberechtigung?

Solange Frauen mit den Folgen sexualisierter und insgesamt geschlechtsspezifischer Gewalt beschäftigt sind, davon körperlich und seelisch noch heilen und erst wieder Vertrauen in andere Menschen entwickeln müssen, können sie sich nicht im selben Maße in die Gesellschaft einbringen wie Männer, die das nicht erlebt haben. Die Androhung sexualisierter Gewalt betrifft alle Frauen und Mädchen, nicht nur diejenigen, die sie schon am eigenen Leib erfahren haben – was in Deutschland immerhin auch auf jede siebte Frau zutrifft. Sexuelle Belästigung erlebt mehr als jede zweite Frau. Viele Mädchen wachsen in dem Bewusstsein auf, sich vor sexualisierter Gewalt schützen zu müssen. Sie werden dadurch in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Frauen haben Angst, nachts allein durch den Park zu gehen oder ihr Auto in einem schlecht beleuchteten Parkhaus abzustellen. Sie können sich dadurch nicht so frei wie Männer in der Öffentlichkeit bewegen. Dazu kommt, dass für Frauen tatsächlich der soziale Nahraum viel gefährlicher ist als der öffentliche Raum. Solange Frauen Angst vor sexualisierter Gewalt haben müssen, und gleichzeitig Männer wissen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur Rechenschaft gezogen werden, ist keine echte Gleichberechtigung möglich. Dieses Ungleichgewicht führt dazu, dass Frauen sich nicht im selben Maße wie Männer in demokratische oder wirtschaftliche Prozesse einbringen können. Einerseits sollen mehr Frauen in Führungspositionen oder in die Politik, andererseits werden Politikerinnen im Netz massiv mit Hass und sexualisierter Gewalt bedroht. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat nur selten strafrechtliche Konsequenzen für die Täter. All das stabilisiert die bestehende Ungleichheit und zwingt Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern. Das Bewusstsein, potentiell oder de facto geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu sein, schafft für Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen schlechtere Voraussetzungen.

Warum ist sexualisierte Gewalt – auch nach #MeToo - immer noch ein so großes Tabuthema, und was könnte sich ändern, wenn das nicht mehr so wäre?

Die Täter haben ein großes Interesse daran, dass nicht über sexualisierte Gewalt gesprochen wird – das Tabu schützt sie, sie werden nicht zur Rechenschaft gezogen und können so weitermachen wie bisher. Die betroffenen Frauen empfinden oft eine vermeintliche Mitschuld – die ihnen gesellschaftlich ja auch vermittelt wird – und Scham. Gerade gebildete, beruflich erfolgreiche Frauen möchten nicht als „schwaches Opfer“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Außerdem müssen Frauen befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird – so wirkt das Tabu ja auch. Das war bei #MeToo nicht anders, es brauchte tausende von Fällen bis man Frauen geglaubt hat. Oft hat man ihnen vorgeworfen, sie würden aus Rache Männer falschbeschuldigen oder sich Vorteile davon erhoffen – was absurd ist, noch keine Frau hat ihre Karriere darauf aufgebaut, einen Mann zu denunzieren. Über eine traumatische Erfahrung zu sprechen, und dann mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, dass man lügt, um sich wichtig zu machen, das schreckt viele Frauen ab, deshalb schweigen sie. Wenn ein Klima geschaffen wird, das es leichter macht für Betroffene, ihre Erfahrung zu teilen und Solidarität zu erleben, könnte auch effektiver gegen sexualisierte Gewalt vorgegangen werden. Eine bisher noch große Schwachstelle ist die fehlende Stimme der Männer, die (sexualisierte) Gewalt ablehnen und die ihre Geschlechtsgenossen (meist sind die Täter männlich) zur Rechenschaft ziehen.

Welche Rolle spielen Medien für unser Verständnis von geschlechtsspezifischer Gewalt?

Medien prägen unser Bild der Wirklichkeit. Sowohl fiktionale als auch Informationssendungen vermitteln uns bestimmte Sichtweisen auf gesellschaftliche Phänomene. Deshalb ist es ganz entscheidend, wie geschlechtsspezifische und insbesondere sexualisierte Gewalt in Filmen, Serien, Nachrichten und Dokumentationen dargestellt wird. Eine Studie der Hochschule Wismar und der Universität Rostock in Kooperation mit der MaLisa Stiftung und der UFA GmbH hat gezeigt, dass im Fernsehen im Untersuchungszeitraum in einem repräsentativen Sample des deutschen TV-Programms 2020, Zeitfenster 18-22 Uhr in ca. 2/3 der Sendungen quer durch alle Genres und Programmsparten geschlechtsspezifische Gewalt gezeigt oder thematisiert wurde. Da geschlechtsspezifische Gewalt auch in der Realität häufig vorkommt, ist es erstmal gut, dass Medien sich damit beschäftigen und das Thema so im Idealfall aus der Tabuzone herausholen. Entscheidend ist aber, wie geschlechtsspezifische Gewalt dargestellt wird. Die Studie hat gezeigt, dass die medialen Darstellungen Stereotype und falsche Überzeugungen, gerade was sexualisierte Gewalt betrifft, eher verstärken als auflösen. So geschieht in Filmen – im Gegensatz zur Realität - geschlechtsspezifische Gewalt selten im sozialen Nahbereich. Das geläufige, aber statistisch betrachtet falsche Bild des unbekannten Täters, der nachts plötzlich aus dem Gebüsch springt und eine Frau überfällt, herrscht vor. Außerdem dominiert die Sicht der Täter und der Ermittler*innen, die Perspektive der Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt kommt umfassend nur in ca. 8 Prozent der untersuchten Sendungen vor. Unterstützungsangebote für Betroffene und Lösungsmöglichkeiten werden meist gar nicht thematisiert, weder in den Inhalten, noch als Einblendung zum Beispiel der Nummer und Website des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen (https://www.hilfetelefon.de/) am Ende der Sendung. Aber Medien können natürlich auch eine positive Rolle spielen, wenn sie realitätsnäher auf das Thema eingehen und den Blick auch auf die gesamtgesellschaftliche Situation lenken. Das ist ein weiteres Problem in den untersuchten Darstellungen geschlechtsspezifischer Gewalt: Sie wird in der Regel als individuelles Problem zwischen zwei Menschen dargestellt. Damit wird der Blick auf die strukturelle Dimension und die verschiedenen Ebenen, auf denen Veränderung möglich ist, verstellt.

Sie haben zusammen mit mehr als 40 Entscheidungsträger*innen aus der Branche ein Impulspapier „Geschlechtsspezifische Gewalt in Kino, Streaming und Fernsehen“ https://wiftg.de/uploads/2023/11/impulspapier_geschlechtsspezifische_gewalt_film_final.pdf erarbeitet. Was sind die zentralen Punkte?

Bei der gemeinsamen Initiative von Women in Film & Television (WIFT) Germany, MaLisa Stiftung, Bundesverband Schauspiel (BFFS) geht es vor allem darum, wie geschlechtsspezifische Gewalt dargestellt wird, aber auch darum, dass die Menschen, die an dem Film mitarbeiten, besser geschützt sind. Beide Ebenen greifen ineinander. Die Stärke des Papiers ist, dass es den gesamten Produktionsprozess umfasst, beginnend mit dem Drehbuch, aber auch der Filmförderung und den beauftragenden Sendern, über Regie, bis hin zu Postproduction, Schnitt, Ton. Auch die Arbeitsbedingungen am Set werden angesprochen. Von der grundsätzlichen Frage „Warum wollen wir in diesem Kontext überhaupt geschlechtsspezifische Gewalt erzählen, was ist der Mehrwert?“ bis hin zu der Frage, wie und aus welcher (Kamera-)Perspektive die Gewalt inszeniert wird, werden alle Dimensionen der Entstehung eines Films abgedeckt und hoffentlich ein kritisches Bewusstsein für das Thema geschaffen. Das Impulspapier formuliert keine Vorgaben, sondern Fragen, als Anregungen zum Nachdenken. Oftmals wird gerade geschlechtsspezifische Gewalt sehr stereotyp dargestellt, gar nicht als bewusste Entscheidung, sondern aus Zeitmangel, weil kein Raum ist, darüber nachzudenken. Dann macht man es eben so, wie man es immer gemacht hat. Das soll das Papier verhindern und Möglichkeiten für Veränderung für alle Gewerke aufzeigen. Da geht es auch um Casting, um Intimacy Coordination (ähnlich einer Stunt-Koordination) bei Sexszenen oder Szenen sexualisierter Gewalt.

Das klingt wie ein Schutzkonzept, so wie Schulen es erarbeiten sollen, jede Schule für sich, um sexuellen Kindesmissbrauch zu verhindern und betroffene Kinder besser zu unterstützen und zu schützen.

Ja, es kann gewissermaßen auch ein Element eines Schutzkonzepts gegen geschlechtsspezifische Gewalt für die Produktion sein. Am Anfang steht ein Vision Agreement, in dem alle Beteiligten sich auf ein gemeinsames Verständnis für die inhaltliche Ausrichtung der Produktion einigen und vereinbaren, wie sie zusammenarbeiten wollen. Es muss klar festgelegt werden, was akzeptabel ist, und was nicht, und wie damit umgegangen wird, wenn Abmachungen nicht eingehalten werden. Durch die Fragen, die sonst nicht gestellt werden, können auch neue Ideen für die Erzählung entstehen. Das Impulspapier kann zu einem besseren, weil sicheren Arbeitsumfeld, und zu neuen, interessanteren Geschichten beitragen. Letzteres kommt auch dem Publikum zugute und kann neue Blickwinkel eröffnen. Warum nicht auch einmal Raum geben für bisher wenig oder gar nicht Erzähltes, wie beispielsweise die Darstellung von Frauen, die sich erfolgreich wehren. Statt noch ein weiterer Krimi oder True Crime Story, könnten ja auch Filme oder Serien gezeigt werden über Menschen, die gewaltfrei und selbstbestimmt zusammenleben, über Gesellschaften, in denen sexistisches Verhalten und geschlechtsspezifische Gewalt geächtet ist und wo Täter*innen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies würde dem Publikum neue Vorstellungswelten eröffnen, die uns bisher noch weitgehend fehlen.
 

2. siehe https://www.djb.de/presse/stellungnahmen/detail/st19-24/ ; BGH vom 29.10.2008, Az. 2 StR 349/08; BGH vom 15.05.2003, Az. 3 StR 149/03; BGHR StGB § 211 niedrige Beweggründe 32. Es bleibt die Frage, wie sich der Täter selbst dessen berauben kann, was er nie besessen hat.

Gespräch mit

Karin Heisecke (M.Sc. Gender and Social Policy) ist Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Geschlechtergerechtigkeit. Sie arbeitet als Politik- und Strategieberaterin für deutsche und internationale Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen sowie internationale Organisationen. Sie leitete die MaLisa Stiftung von ihrer Gründung 2016 bis zum Frühjahr 2024 und war verantwortlich insbesondere für die Initiativen zu Geschlechterstereotypen und zur Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt in den (audiovisuellen) Medien.

[Foto: Nikolaus Tarouquella-Levitan]

Gesprächsführung

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

[Bild: Sandra Hermannsen]
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